Psychogramm einer überforderten Gesellschaft
Was haben Depressionen und Überkonsum gemeinsam? Die Wurzel der Verleugnung, findet Paartherapeut, Psychoanalytiker und Sachbuchautor Wolfgang Schmidbauer. Sein neuestes Werk „Raubbau an der Seele“ ist nicht nur ein psychologischer Text zur Ökologie, es ist eine schonungslose Gesellschaftskritik, die dank der gut ausgewählten Argumente meistens objektiv wirkt.
In vier aufeinanderbauenden Hauptkapiteln vertieft der Autor seine These, warum ein gesellschaftliches und politisches Umdenken so dringend nötig sind. Aus der Sicht des Psychoanalytikers erzählt er eingehend, wie es zu dem massiven Raubbau unserer seelischen Ressourcen kommt und spannt immer wieder sehr geschickt den Bogen zum ökologischen Raubbau, den wir als Konsumgesellschaft betreiben. Dass Perfektion keinesfalls positiv ist, erfahren wir aus dem Märchen „Der goldene Vogel“, mit dem Schmidbauer den zweiten Teil des Buches beginnt. Wege aus dem doppelten Raubbau und Lösungsvorschläge für den Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes runden das Werk sehr zufriedenstellend ab.
Zahlreiche Beispiele aus seiner Praxis sowie Zitate und Thesen anderer Fachautoren bringen den Leser über viele Seiten schnell voran. Anderen Passagen muss wiederum größere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, was deutlich zeigt, dass es sich hier um ein Sachbuch handelt. Immer wieder stößt man auf psychologische Fachausdrücke wie Introjekt, Projektion, Resilienz oder Affekt, doch allen voran zieht sich der Begriff manische Abwehr wie ein roter Faden durch das ganze Werk. Wem dieser nicht geläufig ist, wird sich sehr schwer tun, die Quintessenz zu verstehen. Zwar geht Schmidbauer bereits in der Einleitung und im ersten Kapitel kurz darauf ein, dennoch mag seine knappe Definition für den Laien nicht ausreichend sein. In einem Interview bezeichnet er die manische Abwehr als optimistische Abwehr: „Das sind Leute, die so tun, als hätten sie kein Problem.“
Wegschauen hilft (nicht)
Der Unmut des Autors ist gleich zu Beginn deutlich spürbar, weil wir es uns ziemlich einfach machen, indem wir die Probleme verleugnen, obwohl wir sie intellektuell sehr wohl erkannt haben. Bei psychischen Erkrankungen schlucken wir die bunten Pillen, die uns die Pharmaindustrie frohlockend zur Verfügung stellt und angesichts der voranschreitenden Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit tun wir so, als gehe es nicht um unseren Planeten.
Auch in seiner Kritik zur Einnahme von Antidepressiva ist Schmidbauer kaum zu zügeln, denn: „Von der Pharmaindustrie unabhängige Forscher sind sich weitgehend einig, dass die Wirkung antidepressiver Medikamente 1. nicht auf dem von den Herstellern behaupteten Mechanismus der „Erschöpfung“ des Botenstoffes Serotonin im Gehirn beruht und 2. bei der weit überwiegenden Zahl behandelter Patienten die Wirkung des geläufigen Placebo aus Milchzucker nicht übersteigt.“ Diese Aussage sitzt. Allerdings handelt es sich um eine florierende Milliardenindustrie, dessen Entstehung der Autor im ersten Teil des Buches äußerst eloquent schildert. Deshalb ist es etwas schade, dass die fehlende Quellenangabe dieser Behauptung des sonst so zitierfreudigen Psychoanalytikers möglichen Widersprechern Tür und Tor öffnen könnte.
Jedenfalls sieht er Antidepressiva deswegen nicht als Lösung, weil sie in erster Linie dazu dienen, Menschen schnell wieder funktionstüchtig zu machen und den Weg zur Erkenntnis verschleiern, warum es überhaupt zu der Erkrankung gekommen ist.
Übertragen auf den materiellen Raubbau, den wir uns leisten, heißt es: „Es wirkt makaber, wie sich auf dem Gebiet des Umgangs mit den Störungen der Psyche das Leitmotiv der Konsumgesellschaft wiederholt: Kurzfristige Lösungen schaffen langfristig Probleme, die schwerer wiegen als die Not, gegen die sie helfen sollten.“
Homo sapiens vs. Homo consumens
„Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht mögen“ hieß es schon im Film Fight Club. Treffender könnte man den Homo consumens gar nicht beschreiben. Schmidbauer fügt hinzu: Wir verbrauchen mehr Rohstoffe und Energie, als sich auf dem Planeten regenerieren können und parallel dazu wächst unsere seelische Erschöpfung. Der Psychoanalytiker spricht sogar von einer „kannibalischen Dynamik“ der Selbstoptimierungs- und Selbstperfektionierungsgesellschaft, die bereits im Kindesalter entsteht.
„Wir haben uns in eine Paradoxie hineinentwickelt und unsere ökonomische Kreativität, unseren Erfindergeist an der Fiktion orientiert, dass der Planet über grenzenlose Ressourcen verfügt. Ähnlich gehen wir auch mit unserer Psyche um: Wir überfordern sie, weil es eben „noch“ geht – bis sie kollabiert.“
Wie es zum Status Quo kam
Spannend ist Schmidbauers Herleitung, wie sich aus der Kultur von Jägern und Sammlern eine von Angst geprägte Gesellschaft entwickelt hat. Was waren die Motive, die eine vernünftige („sapiens“) Lebensform in eine destruktive verwandeln?“ – fragt der Autor. Während unsere Vorfahren für das Hier und Jetzt gelebt haben, gilt für uns: Je mehr wir besitzen und erwirtschaften, desto mehr Angst haben wir, es zu verlieren. Eine mögliche Antwort ist „die Leistungsfixierung und die in ihr wurzelnde Freudlosigkeit“. Mehr noch – die Konsumgesellschaft lässt uns glauben, dass das Leben durch Leistung kontrollierbar ist. „Wer genug leistet, kann sich Sicherheit und Glück kaufen. Aber was ist genug?“ Das Bedürfnis nach Sicherheit ist leider unersättlich, ist sich Schmidbauer sicher.
Heutzutage wird das Leben als eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung verstanden, Ziele müssen erreicht werden und Abbrüche gibt es nicht. „In der Konsumgesellschaft ist die manische Abwehr normal. Wer die nicht aufbauen kann, fällt auf.“ Ergo kann „der „normale“ Mensch (…) die Normen in der modernen Gesellschaft nur dadurch erfüllen, dass er seine Belastbarkeit überschätzt.“ Wenn die Ressourcen erschöpft sind, kippt das System. Um Rückschläge zu verarbeiten bräuchte man Kreativität, Zulassen von Gefühlen, Kindlichkeit – alles, was man ausgeschlossen hat, um zu funktionieren.
Konsum und Leistung sind keine Lösung
„Fast panisch wird eine Diskussion über sinnvolle Minderung der inzwischen gewonnenen Komfortzonen vermieden.“ Die Demokratie „versagt bisher weitgehend darin, die destruktive Verführungskraft von Waren zu regulieren, welche Körper und Psyche der Konsumenten schädigen.“
Hinzu kommt aus Sicht des Autors ein anderes Problem: „Wenn wir stillstehen, fürchten wir, in einen Abgrund zu stürzen. Wir erleben das destruktive Beschleunigungs- und Verschwendungssystem als „sicher“ und fühlen uns unsicher, wenn es darum geht, umzudenken und umzukehren.“ Der Kreis schließt sich, indem die manische Struktur des überzogenen Konsums wieder mal Oberhand gewinnt.
Schmidbauer ist bewusst, dass es ist nicht einfach ist, Gewohnheiten zu ändern. Dass unsere Widerstandskraft meist zu schwach ist, um die nötige Disziplin zu bewahren oder überhaupt erst eine aufzubauen, wird auch von Forschern bestätigt. Deswegen sieht er politische Entscheidungen als das wichtigste Mittel. Dieser Vorschlag wird den wenigsten gefallen, zumal „in vielen Bereichen der Wirtschaft (…) Manie und Größenwahn endemisch [sind], etwa im Banksektor oder in der Automobilindustrie.“
Wege aus der Überforderung
Die Gefahr ist zwar erkannt, aber noch lange nicht gebannt. Sich diese Muster bewusst zu machen ist auf alle Fälle schon mal ein wesentlicher Schritt in Richtung Veränderung.
Trotz seiner scharfen Worte gibt sich Wolfgang Schmidbauer zum Schluss optimistisch und knüpft an positive Beispiele aus der Vergangenheit an. Eine Veränderung des Konsumverhaltens ist möglich, auch wenn es sehr lange dauert, bis sie sich durchsetzt. Man denke beispielsweise an das Rauchverbot in öffentlichen Räumen.
Statt Mittel gegen die Folgen zu suchen empfiehlt der Psychoanalytiker zur Wurzel des Übels vorzudringen und dort etwas zu ändern, sodass die Regeneration – sei es die seelische oder die ökologische – wieder eine Chance hat.
„Es kann ein Vorwärts in einer Welt geben, in der Menschen das Wichtige teilen und nicht um Luxusgüter konkurrieren. Verlustängste und Depressionsgefahren wachsen mit dem Verschwendungskonsum und den Wachstumszwängen einer Wirtschaftsordnung, die nicht dem allgemeinen Nutzen gilt. […] Es geht um die Fähigkeiten, die wirklich wichtigen Dinge zu erkennen und zu schätzen: die Beziehungen zu anderen Menschen.“
Simpel, aber nicht einfach.
Fazit
Im „Raubbau an der Seele“ setzt Wolfgang Schmidbauer die Brille der Weitsichtigkeit auf und wirft Politik und Gesellschaft fahrlässige Kurzsichtigkeit vor. In der Tat hat er das Talent, Desaster vorherzusehen – davon zeugen bereits einige seiner früheren Werke, in denen er vor aufkommenden Umweltschäden warnt. Er hat auch den Mut, die Probleme schonungslos beim Namen zu nennen. Seine Sicht der Dinge wird sicherlich vielen nicht passen, was allein schon als positiv gedeutet werden könnte. Leider orientiert sich sein Schreibstil zu sehr an das Fachpublikum. Das Buch liest sich stellenweise wie ein Auszug aus einem psychologischen Bericht und wird wahrscheinlich aus diesem Grund in erster Linie von Therapeuten, Trainern und Coaches geschätzt werden. Das ist natürlich mehr als schade, angesichts der Tatsache, dass es um ein so globales Thema geht, das uns alle betrifft. Seine Botschaft ist zu wichtig, um nicht so verständlich wie möglich rübergebracht zu werden. Davon, dass der Autor diese komplexe Materie deutlich anschaulicher darstellen kann, zeugen zwei Interviews für den SWR und Deutschlandfunk Kultur, die er im Zusammenhang der Bucherscheinung gegeben hat.
Wem die Problematik am Herzen liegt, dem kann man das Werk trotzdem sehr ans Herz legen. Es ist schließlich der gelungene Vergleich, der die Perspektive so erfrischend macht.
Das Rezensionsexemplar wurde mir kostenfrei vom oekom Verlag zur Verfügung gestellt.
Buchinformationen
Autor: Wolfgang Schmidbauer
Titel: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft.
Verlag: oekom Verlag München, 2017, 256 Seiten
ISBN-13: 978-3-96006-009-3
Preis: 22 Euro
Online bestellen: z.B. bei Buch7 und Ecobookstore