„Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet.“
Hans-Magnus Enzensberger, 1979
Große frischgrüne Titelschrift, verspielte Coverillustrationen – da könnte man leicht das Schlüsselwort im Untertitel übersehen: Handbuch. Und zwar nicht irgendein – „FAIRreisen“ ist ein Handbuch par excellence. Es ist kein Ratgeber, den man so mal auf die Schnelle durchblättern kann und sollte – dafür ist das neueste Werk vom Tourismusexperten und Sachbuchautor Frank Herrmann viel zu schade. Nicht umsonst wurde „FAIRreisen“ im März 2017 auf der weltweit größten Reisemesse ITB Berlin mit dem Buchpreis für das beste touristische Fachbuch ausgezeichnet.
Ungeduldige und tatendurstige Leser sollten allerdings die Lektüre gleich mit dem vierten Kapitel beginnen. Dort bekommen sie auf knappe zwanzig Seiten in Checklistenform zusammengefasst dargestellt, worauf sie beim Reisen achten sollten. Das ist äußerst hilfreich, wenn man „grün“ unterwegs sein möchte, gleich damit anfangen will, aber nicht so richtig weiß, wo und wie. Wer sein Wissen zu den jeweiligen Themen vertiefen möchte, kann das anschließend in den ersten Kapiteln in Ruhe tun.
Kapitel 1 – Globaler Tourismus auf Rekordjagd
Egal wohin, wie weit und wie oft man reist – jedem, der seinen Jahresurlaub nicht gerade auf Balkonien verbringt, wird schon aufgefallen sein, dass immer mehr Menschen unterwegs sind. „Reisen ist Konsum und Statussymbol zugleich. […] Reisten im Jahr 1970 rund 150 Millionen Menschen ins Ausland, ist diese Zahl mehr als 45 Jahre später auf das Achtfache gestiegen – rund 1,2 Milliarden“. 2030 werden es laut Prognosen 1,8 Milliarden sein. Klar sind diese horrenden Zahlen auch mit einigen Vorteilen verbunden. Auf diese geht Frank Herrmann im 6-seitigen Einführungskapitel ein. Nachdem die Reisebranche weltweit zu den lukrativsten Wirtschaftsfaktoren zählt, sind einige Akteure weiterhin daran interessiert, dass das Wachstum nicht aufhört. Doch „Wie viel Tourismus verträgt die Erde?“ fragt der Autor unmissverständlich. Warum die Grenzen vielerorts bereits überschritten sind, erklärt er seinen detailverliebten Lesern im nächsten Kapitel – auf stolzen 170 Seiten. Wohlgemerkt objektiv und ohne erhobenen Zeigefinger.
Kapitel 2 – Es ist nicht alles Gold, was glänzt …
… und auch wenn es eine Zeit lang sogar so war, redet Herrmann jetzt Tacheles: Der Tourismus ist keine Ressource, aus der man endlos schöpfen kann. Außer er wird verantwortungsvoll. Denn dieser „schädigt die Natur nicht, sondern nutzt und bewahrt sie gleichermaßen.“
Der Autor zieht sehr viele Untersuchungen, Statistiken und Analysen heran, um aufzuzeigen, wie ernst die Lage bereits ist. „Einseitig gefärbte Tourismusstudien blenden gerne die Kosten der Schäden aus“, stellt Herrmann fest und sorgt mit transparent erläuterten Vergleichen für ausreichend Balance. Man könnte fast sagen, dass der Autor stellenweise den Anspruch auf die Vollständigkeit einer akademischen Doktorarbeit hat. Dank der verständlichen Sprache, der interessanten Infokästen und Experteninterviews wird die Lektüre jedoch angenehm aufgelockert.
Um dieses immens komplexe Wissen übersichtlich darzustellen, werden die acht großen Themenblöcke in Unterkapiteln einzeln behandelt.
Klima und Umwelt
Die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Transportmittel werden auf fünfzig Seiten abgehandelt. Aus irgendeinem Grund wird die E-Mobilität komplett außen vor gelassen, dabei ist das ein Thema, dass sicherlich relevant ist. Man erfährt unter anderem, wie man die eignen CO2-Emssionen berechnet, wie man das richtige Kompensationsangebot findet und warum Agrotreibstoffe die Utopie vom grünen Fliegen sind. Auch geht der Autor das erste, aber bei weitem nicht das letzte Mal darauf ein, warum die Kreuzschifffahrt nicht nur eine der umweltschädlichsten, sondern auch am wenigsten nachhaltigen Formen überhaupt ist, um Urlaub zu machen. Um seine kategorische Meinung zu untermauern, zieht er gut erklärte Beispiele touristischer Klima-Fußabdrücke heran: 1221kg CO2 hinterlässt eine Person bei einer 14-tägigen Mallorca-Reise. Während einer Kreuzfahrtschifffahrt hat man den gleichen Abdruck in nur 7 Tagen generiert.
Menschen
In der Tourismusbranche werden auf viele Ebenen Menschenrechte verletzt. Dabei ist nicht nur der Sextourismus gemeint. Der Autor spricht von Kinderarbeit, Bezahlung unter Mindestlohn, fürchterlichen Arbeitsbedingungen, um nur einige zu nennen. Viele Organisationen beschäftigen sich bereits mit dem Thema, doch der Weg ist noch ein weiter, so Herrmann. Ein Nonplusultra sei es, die Interessen der lokalen Bevölkerung von Anfang an mit einzubeziehen, ist er sich sicher. Wenn die Entscheidung gegen ein Projekt fallen sollte, dann sei das zu respektieren. Des Weiteren wird ein anderer interessanter Aspekt beleuchtet, den man nicht außer Acht lassen sollte, wenn man sich Gedanken über das Wunschreiseland macht: „Wenn wir nach China, Myanmar, Sri Lanka, Honduras, Qatar oder Botswana reisen, müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob wir denn wissen, wen oder was wir da möglicherweise mit unserem Geld unterstützen.“ Diese Entscheidung kann ganz schön zwiespältig sein.
Auch für die Themen Kultur, Tiere, Müll, Wasser, Berge und Städte werden die entsprechenden Problematiken mit Besorgnis aufgezeigt und objektiv analysiert. Von den zahlreichen Alternativen, die der Autor liebevoll aufzeigt, wird noch mal sehr deutlich klar, dass seine Lösung nicht heißt, zu Hause zu bleiben. Es geht um das Wie. So banal es klingen mag – auch hier sind es oft Kleinigkeiten, die den großen Unterschied machen.
Kapitel 3 – Tourismus mit Verantwortung
Der Begriff Nachhaltigkeit ist rechtlich nicht geschützt, hält der Autor fest und deckt auf, wie sehr das Wort zu Profitzwecken missbraucht wird. „Es klingt entspannend wie die Reise selbst: „sanftes Reisen“, „Ökotourismus“, „fair travel“ – doch all diese Begriffe sind nicht eindeutig definiert und werden von Veranstaltern, Verbänden, Regionen und Regierungen nach Laune und Gutdünken verwendet. Mit den entsprechenden Inhalten sind sie selten gefüllt.“
Wieder führt uns Herrmann bestens informiert durch den Dschungel von Siegeln, Labeln, Verbänden, Organisationen usw. und macht uns mit den wichtigsten Akteuren bekannt – wer macht was auf der internationalen Bühne der Nachhaltigkeit.
Sein Fazit ist dennoch ernüchternd: „Ohne die großen Touristikkonzerne bleibt faires und grünes Reisen ein Nischenmarkt.“ Wenn man sich die Maßnahmen durchliest, die Reisekonzerne erst zu treffen beginnen, wird einem klar, dass dies noch länger so bleiben wird.
Optimistischer zeigt sich der Experte, was Unterkünfte betrifft. „Es gibt weltweit bereits viele Häuser, die der Idealvorstellung sehr nahekommen.“ Sie hätten erkannt, dass sie damit konkurrenzfähig bleiben und dass sich so „nachweislich Geld sparen lässt“. Eine sehr hilfreiche Liste mit 500 fairen und grünen Tipps inkl. nachhaltiger Unterkünfte aus 30 Ländern gibt es zum Download beim Kauf der Buches gratis dazu.
Nicht minder eindringlich als vor Kreuzfahrten warnt der Autor auch vor All inklusive-Reisen. Dabei zitiert er die englische Organisation Tourism Concern, laut der nur 10 Prozent der Ausgaben eines AI-Urlaubers in der Türkei den Weg in die lokale Wirtschaft finden. Es geht aber nicht nur um den geringsten ökonomischen Nutzen für die Einheimischen: Die schlechte Entlohnung der Angestellten solcher Anlagen und die „obszön anmutende Lebensmittelverschwendung“ sind noch weitere triftige Argumente, um von dieser Art Reisen dringend Abstand zu nehmen. „Nirgends sonst zeigt die dekadente Überflussgesellschaft des Westens ihr hässliches Gesicht so deutlich wie vor den überladenen Büffets der AI-Anlagen und der Kreuzfahrtschiffe.“
Zum Schluss heißt es noch Augen auf beim Volontariats-, Slum- und Waisenhaustourismus – sogar da kann man nichtsahnend hinters Licht geführt werden. Mit einem gut gemeinten Vorhaben stopft man dann nicht selten die falschen Taschen voll.
Kapitel 4 – Was wir vor, während und nach der Reise tun können
Man könnte zuerst über das verhältnismäßig kurze Kapitel enttäuscht sein, doch schließlich hat der Leser in den vorhergehenden Kapiteln erfahren, was er alles NICHT tun soll. Neu dazu kommen einige leicht umzusetzende Tipps, wie zum Beispiel den gedruckten Reisebürokatalog mal sein zu lassen oder beim Kauf vom Reiseführer auf seine ökologische und ökonomische Bilanz zu achten. Praktisch auch die Infos zur Beschaffung nachhaltiger Outdoor-Kleidung und anderer fair erzeugter Reiseutensilien.
Die Checklisten und FAQ sowie der knapp 20-seitige Serviceteil im Kapitel 5 mit zahlreichen weiterführenden Adressen, Literaturempfehlungen, Filmtipps und Webseiten runden das Handbuch perfekt ab.
Fazit
In Rezensionen sollte man überenthusiastische Statements vermeiden. Dennoch muss an dieser Stelle vorbehaltlos festgehalten werden: Dieses Buch ist brillant recherchiert. Wenn man sieht, mit welcher Sorgfalt Frank Herrmann Statistiken und Informationen zu jedem der behandelten Themen gesammelt hat, dann weiß man, mit wie viel Herzblut er bei der Sache war. Als bekennender Vielreisender wäre er ehrlich gesagt auch nicht glaubwürdig, die Message Bitte nicht reisen! in die Welt zu verbreiten. Stattdessen betont er immer wieder: Es kommt nicht auf das Ob an, sondern auf das Wie.
Das 300-seitige Handbuch und die enge Schrift wirken zunächst etwas abschreckend, stellenweise ist es in der Tat zu detailliert. Es schafft aber einen ganzheitlichen Überblick, der keine Fragen offen lässt. Wenn man bedenkt, wie viel geballte Information man für weniger als 20 Euro bekommt, ist das Preis-Leistungsverhältnis mehr als positiv.
„FAIRreisen“ ist nicht nur für Hobbyreisende Pflichtlektüre, sondern für alle, die in diesem Bereich studieren oder arbeiten wollen. Der Spagat, sowohl Fachkreise als auch allgemein interessierte Leser zu begeistern, gelingt selten. Dies ist dem Autor durchaus gelungen.
In den letzten paar Jahrzehnten war in der Reisebranche von Handlungsbedarf die Rede. Immer mehr Menschen wird es nun bewusst, dass langsam aber sicher Umsetzungsbedarf besteht. Frank Herrmann spricht sogar von einem dringenden Lösungsbedarf. Er hat richtig erkannt, dass lösungsorientiertes Denken der einzige Weg ist, der zu einem nachhaltigen Ziel führen wird.
Über den Autor
Der Diplombetriebswirt, Sachbuchautor und Journalist Frank Herrmann hat lange in Mittel- und Südamerika gelebt und dort Reisen veranstaltet, Entwicklungsprojekte geleitet und Hilfsorganisationen beraten. Er ist u.a. Co-Autor des Ratgebers „Fair einkaufen – aber wie?“
Aktuell hält er Vorträge zu den Themen „Fairer Handel“, „Fairer Tourismus“, „Faire Mode“, „Nachhaltige Geldanlagen“ und ist Initiator der Fairen Biketour.
http://www.frank-herrmann.ws
http://faireinkaufenaberwie.blogspot.de
http://faire-biketour.blogspot.de
Das Rezensionsexemplar wurde mir kostenfrei vom oekom Verlag zur Verfügung gestellt.
Buchinformationen
Autor: Frank Herrmann
Titel: FAIRreisen
Verlag: oekom Verlag München, 2016; 328 Seiten
ISBN-13: 978-3-86581-808-9
Taschenbuch; Preis: 19.95 €
Online bestellen: z.B. bei Avocadostore, Buch 7, Ecobookstore und Amazon
Weiterführende Informationen
Nachhaltigkeit im Tourismus – Wegweiser durch den Labeldschungel
In der handlichen Broschüre werden die führenden internationalen Gütesiegel für Beherbergungsbetriebe, Reiseangebote und Reiseveranstalter vorgestellt und auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft. Wer steht hinter dem Zertifikat? Sind die Kriterien transparent und öffentlich zugänglich? Wie vertrauenswürdig sind die Prüfverfahren? Welche Bereiche der Nachhaltigkeit werden untersucht? The „Guide through the jungle of Ecolabels“ for travellers and tourists has been published by NFI, AKTE, Tourism Watch and ECOTRANS.
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Faire Biketour 2017
Mit den Fairen Biketouren möchte Frank Herrmann mehr Bewusstsein schaffen für ein faires Leben und einen fairen Umgang miteinander aber auch einen für einen emissionslosen Reisestil.
Faire Biketouren Termine
Fair einkaufen – aber wie?
Der Ratgeber für Fairen Handel, für Mode, Geld, Reisen, Elektronik und Genuss | Autoren: Martina Hahn, Frank Herrmann
Link zum Verlag
Internationales Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung
Die Vereinten Nationen haben 2017 zum „Internationalen Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung“ erklärt.
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